Bericht des Fachbereichs Politik und Gesellschaft Zur Liste
04/2024 Vortrag Extremismus
Philipp Schlaffer zu Gast an der Realschule im Dreiländereck
Den Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 9 und 10 bot sich die Gelegenheit am Mittwoch, den 09. April 2024, dem Aussteiger Philipp Schlaffer zuzuhören. Als Anti-Gewalt und Deeskalationstrainer erzählte er seine Lebensgeschichte.
Wie kam es zu solch einem Lebenswandel? Natürlich muss ein „solcher Mensch“ aus zerrütteten Familien stammen oder in jungen Jahren mit Gewalt konfrontiert worden sein. Dem widersprach Philipp Schlaffer. Er wuchs behütete und geliebt in dem kleinen Dorf Stockelsdorf auf. Spielte Fußball im örtlichen Verein, hatte Freunde und war gut in der Schule, erhielt auch die Gymnasialempfehlung. Dann wurde er mit 10 zu einem Gespräch mit seinen Eltern geladen. Welche Inhalte könnten dort besprochen werden? „Hat bestimmt jeder von euch schon mal erlebt?“, so Schlaffer. Antworten wie Trennung der Eltern, Verlust der Arbeit eines Elternteils … folgten. Es war ein Umzug nach Nordengland. Ein anderes Land, eine andere Kultur, eine andere Sprache alles, was Philipp Schlaffer nicht wollte. Den ersten Schultag erlebte er mit getrockneten Tränen und einigermaßen freundlichen Mitschülern. Am zweiten Tag wendete sich das Blatt und seine neuen Schulkameraden mobbten ihn, denn er war dort „Deutscher“. Zum ersten Mal verspürte er Wut und das Gefühl allein zu sein.
Doch das Blatt wendete sich erneut. Er kam in England an, fand Freund, spielte Rugby und gliederte sich in das dortige Leben ein. Mit 14 Jahren folgte die nächste Unterhaltung. Wieder ein Umzug, diesmal nach Deutschland. Erneut das Gefühl „allein zu sein“, Wut, Hass und neu dazugekommen die Aggression.
Lasst euch nicht verführen. Zu keinem Extremismus. Denn man lebt kein glückliches Leben. Freiheit und Demokratie gibt es nicht geschenkt, es braucht Engagement. Jeder kann dazu etwas beitragen.
In Deutschland begann er alles und jeden zu hassen: seine neue Gemeinschaftsschule, seine Schwester und vor allem sein Vater. Durch die Musik, das Versprechen von Sicherheit und Geborgenheit, Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft rutschte er mit 16 Jahren langsam in die rechtsextreme Szene ab. Dort fand er all das, was seine Eltern ihm nicht geben konnten. Akzeptanz und Freundschaft fand er in seinen neuen Kameraden in der Schule, die genauso wütend waren, wie er selbst. Diese innere Einstellung zeigte sich auch in seinem äußeren Erscheinungsbild. Er begann Kraftsport zu machen, hängte sich eine Hakenkreuzfahne ins Zimmer und machte den Hitlergruß.
„Wie hätte man als Eltern reagieren können? fragte eine Zuhörerin. Er warf die Frage zurück. „Eventuell ein Rausschmiss“, so die Antwort. Wenn man selbst Geld verdiente, eher schlecht. Vielleicht ein Gespräch mit unbeteiligten Personen, die auch ihn verstanden. Aber die ultimative Antwort gibt es darauf nicht. Die Gruppe wurde immer aggressiver und verbreitete Angst und Schrecken. Seine Schwester erzählte ihm Jahre später, dass sie mit 19 von zu Hause ausgezogen sei, weil sie so große Angst vor ihm hatte – ein schreckliches Gefühl, so Schlaffer. Er machte deutlich, dass es eine Superkraft ist, wenn man in Situationen, die ein schlechtes Bauchgefühl hervorrufen auch Nein sagt. Es ist wichtig, solch eine Superkraft anzuwenden.
Er machte eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann, besuchte mit seinen Kameraden diverse Demonstrationen und Musikevents der rechtsextremen Szene. Mit 19 stand er das erste Mal vor Gericht. Vor der Richterin gelobte er Besserung. Doch bei einer Polizeirazzia fand man eine Schusswaffe bei ihm zuhause. Blitzschnell reagierte sein Vater und nahm die Schuld auf sich, denn Schlaffer hatte wegen gefährlicher Körperverletzung eine Bewährungsstrafe erhalten. „Warum tat ihr Vater das?“, so die Frage. Er weiß es nicht und fragte die Schüler und Schülerinnen wie sie reagiert hätten. Bei der ersten Fragerunde waren die meisten der Meinung, dass sie die Schuld nicht auf sich genommen hätten. Bei der zweiten Fragerunde, wie die Schüler reagiert hätten, wenn es um ihr eigenen Kind ginge, war das Ergebnis ein anderes. So was nennt man Doppelmoral.
Er fand eine Freundin, eigentlich etwas Gutes, nur sie war im rechtsextremen Sinne erzogen worden. Er geriet weiter in den Sumpf. Er zog nach Wismar und gründete dort die neonazistische Kameradschaft Werwolf und war deren Anführer. Er fragte die Schülerinnen und Schüler, wie viele echte Freunde für ihn es dort wohl gab, die Antwort war schnell gefunden, maximal eine bis zwei Personen. Eine Clubregel besagte, dass man ein Messer tragen muss, zur Selbstverteidigung – nur komisch, wenn jeder eines hat. Es folgte ein massiver Polizeidruck auf sein Leben.
Nachdem seine eigenen Nazifreunde ihn überfallen hatten, er konnte es durch die Sturmhaube an den Augen erkennen, und den Mord an einem unbeteiligten Mann, der nur Bier und Zigaretten gebracht hatte, stieg Schlaffer aus der rechtsextremen Szene aus. Doch um dem Gefühl des Alleinseins zu entkommen und weil er der Gewaltspirale nicht entkommen konnte, trat er in den Motorradclub „Schwarze Schar“ ein. Aus Kameraden wurden Brüder, der Verhaltenskodex blieb der gleiche.
2011 wurde er erstmals verhaftet aber bald wieder entlassen, da sich kein Zeuge traute gegen ihn auszusagen. Er hatte als Anführer der Rocker viel Geld und Macht, welches er und seine Brüder mit kriminellen Machenschaften, Schutzgelderpressung und im Rotlichtmilieu verdiente.
Hass kann erlernt, erzogen, aber auch wieder verlernt werden!
Im Jahr 2014 rebellierte sein Körper, er litt an Schlafstörungen und Migräne. Aber einfach so aussteigen ging nicht, denn er würde als Verräter gelten. Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Der Motorradclub wurde vom Verfassungsschutz verboten. Eine Gelegenheit, dem allem ein Ende zu setzen.
Kurz vor Weihnachten, rief er bei seinen Eltern an, zu denen er jahrelang nur sporadischen Kontakt hatte und seine Mama meinte: „Komm heim!“. Endlich Worte, die ihm Geborgenheit gaben.
In einem von der Polizei verwanzten Auto, redeten ehemalige Freunde über ihn und seine Straftaten. So kam er doch noch ins Gefängnis und verbüßte in der JVA Stralsund eine dreijährige Haftstrafe. Beeindrucken empfand er es, dass seine Eltern ihn jedes zweite Wochenende besuchten, dazu nahmen sie eine Wegstrecke von 400 Kilometer auf sich.
Im Gefängnis durchlief er eine Therapie, die ihm half, sein Leben neu zu ordnen. Im Januar 20216 wurde er wegen guter Führung entlassen. Heute zieht er durch die Lande, um den Schülerinnen und Schüler davon zu berichten. Er forderte die Jugendliche auf, sich nicht nur auf die schulischen Leistungen reduzieren zu lassen, sondern sich gegenseitig zu helfen und achtsam gegenüber Rechtsextremismus zu sein.
Lasst euch nicht verführen. Zu keinem Extremismus. Denn man lebt kein glückliches Leben. Freiheit und Demokratie gibt es nicht geschenkt, er braucht Engagement. Jeder kann dazu etwas beitragen.
Gegen Ende fragte ein Schüler, ober Philipp Schlaffer extra von Stöckelsdorf nach Lindau gekommen ist. Mit einer Bejahung der Frage endete der 90minütige Vortrag, dem alle gespannt gelauscht hatten.